Wer mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, den beschleicht derzeit des Öfteren das Gefühl, das vielerorts schon ein lautstarkes Abschiedslied auf die Globalisierung angestimmt wird. Doch wie realistisch ist solch ein Szenario, und wie weit sollte sich Deutschland im Zuge dieser Entwicklung von China oder anderen Handelsmächten entkoppeln?
Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gefragt
Als größte Herausforderung sieht Dreeke die Tatsache, dass man seit Monaten jeden Tag in einer veränderten Welt aufwache und dass vieles, das man für sicher gehalten habe, kurze Zeit später schon nicht mehr in dieser Form gelte. Mit Blick auf die weltweiten Handelsströme und die Logistikaktivitäten der BLG stellt er dabei heraus, wie wichtig in diesen Zeiten Flexibilität und Anpassungsfähigkeit seien: „Wir sind an fast 100 Standorten und Niederlassungen in Europa, Amerika, Afrika und Asien präsent und in unterschiedlichen Märkten unterwegs: mit Containerhandling, Automobiltransporten und Fertigfahrzeugbearbeitung sowie einem breiten Spektrum an Dienstleistungen in der Industrie- und Handelslogistik. Die diversifizierte Aufstellung des Produkt- und Dienstleistungsportfolios macht uns robust und anpassungsfähig.“
Über die Häfen in Bremen und Niedersachen sagt Dreeke in diesem Kontext: „Die Krisen in den Häfen weltweit haben gezeigt, welche Leistungsfähigkeit und Resilienz in den deutschen Häfen vorhanden ist. Das gilt für alle Güter, die wir umgeschlagen haben – nicht nur für Container, sondern auch Autos, Massengüter und konventionelle Ware. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Häfen ist hervorragend.“ Eine der Hauptstärken der deutschen Seehäfen im Vergleich zur internationalen Konkurrenz ist nach seiner Ansicht ihre Intermodalanbindung. „Die deutschen Häfen sind im internationalen Vergleich in der Bahnanbindung führend. Und mit Blick auf die Größe der Schiffe verleiht uns der Tiefwasserhafen in Wilhelmshaven zusätzliche Flexibilität“, so der Manager.
Nationale Alleingänge führen nicht zum Ziel
Auch auf die Frage nach einem geschickten Umgang mit China bezieht Dreeke eine klare Position. „Handel mit China zu betreiben ist eine grundsätzliche Entscheidung, die die Bundesrepublik schon vor Jahrzehnten gefällt hat. Dabei hat man immer gewusst, mit welchem politischen Regime man Geschäfte macht. Und egal ob es die Automobilindustrie ist, die Maschinenbauindustrie oder die chemische Industrie: China ist mittlerweile einer der wichtigsten Handelspartner.“ Angesichts der Entwicklung in den vergangenen Jahren warnt er jedoch: „Was sich gewandelt hat, ist der chinesische Anspruch, auch außerhalb des eigenen Landes wirtschaftlich aktiv zu werden – Stichwort ‚neue Seidenstraße‘. Wir täten gut daran, darauf eine Antwort zu finden – wir als Europäer. Als einzelnes Land werden wir das nicht leisten können.“
Auch aus der Sicht von Thomas Heck, Leiter der China Business Group Deutschland und Europa bei der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft PwC Deutschland, und seinem Kollegen Peter Kauschke, Director Transport, Logistics & Mobility bei PwC, sind die Tage der Globalisierung noch lange nicht gezählt. „Wir sehen und erwarten weiterhin, dass Unternehmen ihre Beschaffungswege diversifizieren und auch neue Absatzmärkte suchen, ohne bestehende aufzugeben. Infolgedessen wird es nach unserer Überzeugung zu einer Entwicklung der Reglobalisierung im Sinne einer Reform und Erneuerung kommen“, so Kauschke. Dementsprechend erwartet er keine vollständige Deglobalisierung im Sinne einer Umkehr der Globalisierung, die mit einer Abkehr von globalen Supply Chains verbunden wäre. „Denn die zentralen Herausforderungen der internationalen Logistik, wie Rohstoffversorgung, Klimaschutz und Digitalisierung, können auf nationaler Ebene gar nicht bewältigt werden“, erklärt Kauschke. Damit vertritt er den gleichen Standpunkt wie zuvor auch Frank Dreeke.
Abkopplung ist kein wünschenswertes Szenario
Nach Ansicht von Heck haben die Sanktionen infolge des Krieges zwischen Russland und der Ukraine die Abhängigkeit der westlichen Volkswirtschaften, insbesondere von russischem Öl und Gas, deutlich gemacht. Dies habe zu einem verstärkten Bewusstsein für die Risiken eines wirtschaftlichen Engagements in China geführt. „Obwohl China offiziell eine neutrale diplomatische Position gegenüber Russlands Aggression gegen die Ukraine einnimmt, entsteht durch Äußerungen von Regierungsvertretern der Eindruck, dass China eigentlich auf der Seite Russlands steht“, erläutert Heck. Parallel dazu deutet er die kürzlich veröffentlichten Entwürfe der China-Strategien Deutschlands und der EU so, dass die Regierungen den Einfluss Chinas auf die heimische Wirtschaft zukünftig wesentlich stärker prüfen wollen. „Angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre ist es nicht nur verständlich, sondern auch notwendig, dass politische und unternehmerische Führungskräfte ihre Strategien überdenken, und zwar nicht nur im Hinblick auf China, sondern in einem viel breiteren Kontext, so Heck. Er schlägt daher vor: „Auch wenn eine globale Abkopplung kein wünschenswertes Szenario ist, müssen Unternehmen, die nach neuen Wachstumschancen suchen, versuchen, das Risiko einer Konzentration auf ein Land als Markt oder auf einzelne Lieferanten zu mindern und gleichzeitig aufstrebenden Volkswirtschaften, beispielsweise in Südostasien, mehr Aufmerksamkeit zu schenken.“
Im Fall von China hat Heck über die vergangenen Monate viele interessante, aber auch gegensätzliche Entwicklungen ausgemacht. So seien im Zuge der stagnierenden Wirtschaft – nach Schätzungen führender Ökonomen wird die chinesische Wirtschaft im Jahr 2022 nur um 3,1 Prozent wachsen – unter anderem die Exporte nach Europa und in die USA zuletzt rückläufig gewesen, während die Exporte nach Russland und in die ASEAN-Länder gestiegen seien. Zudem habe, nach jüngsten Umfragen verschiedener Handelskammern, die ausländische Unternehmen in China vertreten, das allgemeine Vertrauen in China gelitten, während gleichzeitig die ausländischen Direktinvestitionen ein Rekordniveau erreicht hätten. „All dies sind aus meiner Sicht klare Indikatoren für die Unsicherheit, die derzeit auf den Weltmärkten herrscht. Keiner weiß so richtig, wo der Weg der Reglobalisierung hinführen soll“, so Heck.
„Globale Versorgungsnetze werden weiter zurückgehen“
In seinem Selbstverständnis sieht sich der Volkswagen-Konzern als Global Player, der weltweit 120 Standorte betreibt und seine zehn Marken in 153 Ländern anbietet. Dennoch fährt das in Wolfsburg ansässige Automobilunternehmen seit geraumer Zeit eine gewisse Deglobalisierungsstrategie. So habe man in den vergangenen Jahren ein relativ starkes regionales Versorgungsnetz aufgebaut, weshalb nur noch ein geringer Anteil der Automobilteile global zugeliefert würde, teilte ein Unternehmenssprecher auf Anfrage des LOGISTICS PILOT mit. Ergänzend fügt er hinzu: „Globale Versorgungsnetze werden weiter zurückgehen, auch weil der Konzern die Emissionen als Beitrag zum Klimaschutz senken will. Schon heute beziehen wir aus gesamtwirtschaftlicher Betrachtung die Mehrheit unserer Teile regional.“
„Ich denke nicht, dass wir den Verfall der Globalisierung erleben werden.“
Frank Dreeke, Vorstandsvorsitzender
der BLG LOGISTICS Group
Globalisierung
„Dies sind klare Indikatoren für die Unsicherheit, die derzeit auf den Weltmärkten herrscht.“
Thomas Heck, Leiter der China Business Group Deutschland und Europa bei PwC
und China zukünftig zu überbrücken gilt?
Das Ungleichgewicht hat sich vergrößert
Interview mit Jens Eskelund, Vizepräsident der Europäischen Handelskammer in China
Herr Eskelund, wie beurteilen Sie die Qualität der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und China? Haben sich diese Ihrer Meinung nach in den vergangenen Jahren eher verbessert oder verschlechtert?
Jens Eskelund: Der Handel zwischen der EU und China liegt unter seinem Potenzial. Die Ausfuhren der EU nach China sind angesichts der Größe der chinesischen Wirtschaft relativ gering. Die Daten von Eurostat zeigen überdies, dass die EU in der ersten Jahreshälfte 2022 wertmäßig nur 24 Prozent mehr nach China exportierte als in die Schweiz, obwohl Chinas Wirtschaft 22-mal größer ist. Auch der Handel zwischen der EU und China ist unausgewogen, denn die EU importiert derzeit etwa dreimal mehr Waren aus China, als sie dorthin exportiert. Insgesamt lässt sich sagen, dass an beiden Fronten in den letzten Jahren nur begrenzte Fortschritte erzielt wurden und sich das Ungleichgewicht sogar noch vergrößert hat.
Europäische Unternehmen beklagen sich häufig über die ungleichen Wettbewerbsbedingungen gegenüber einheimischen Unternehmen und über ein undurchsichtiges regulatorisches Umfeld in China. Sehen Sie denn in dieser Hinsicht eine positive Entwicklung?
Die Antwort fällt je nach Branche unterschiedlich aus. Die Wirtschaft Chinas öffnet sich weiter und ist zunehmend besser reguliert, wobei die Beschränkungen für ausländische Investitionen in den letzten Jahren gelockert wurden. Gleichzeitig sind strategische Wirtschaftszweige nach wie vor nur für staatliche Unternehmen vollständig zugänglich. In diesen Sektoren erhalten Staatsunternehmen weiterhin eine Vorzugsbehandlung und werden zum Nachteil des Privatsektors vor dem Marktwettbewerb geschützt. Das führt unter anderem zu einem ungleichen Zugang zu Finanzierungen, Lizenzen und öffentlichen Aufträgen.
Was bedeutet die dritte Amtszeit von Chinas Präsident Xi Jinping für Europa und Deutschland – und für den globalen Handel?
Da die von Präsident Xi ernannten Funktionäre erst nach dem Parteitag im März 2023 ihr Amt antreten werden, ist es noch nicht möglich, die Haltung der neuen Regierung zu zentralen Fragen umfassend einzuschätzen. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Betonung von Sicherheit und Eigenständigkeit weiterhin als unabdingbar angesehen wird. Ein positiver Aspekt könnte jedoch Chinas veränderte Haltung gegenüber Covid-19 sein. Wie im Positionspapier 2022/2023 der Handelskammer dargelegt, hatte Chinas striktes Festhalten an seiner Null-Covid-Politik nicht nur negative Auswirkungen auf die chinesische Wirtschaft, sondern auch auf den globalen Handel und die Lieferketten. In den letzten Wochen hat es allerdings einen Paradigmenwechsel in Chinas Ansatz zum Umgang mit Covid-19 gegeben, sodass das Land nun beginnt, seine strengen Covid-19-Beschränkungen zu lockern. Wenn dieser Übergang erfolgreich bewältigt wird, könnte dies dazu beitragen, das Vertrauen in den chinesischen Markt zu stärken und den Gegenwind, dem der Welthandel derzeit ausgesetzt ist, abzuschwächen – auch wenn dies eine schwierige Aufgabe sein wird. Wenn sich die wichtigsten Akteure in Europa und China endlich wieder persönlich treffen, dann wäre dies sehr hilfreich.
Welche Wege müssten in Zukunft beschritten werden, um Europa und China einander näher zu bringen?
Angesichts der derzeitigen Spannungen zwischen der EU und China ist es von entscheidender Bedeutung, dass die führenden Politiker Europas und Chinas eben die Möglichkeit haben, sich persönlich zu treffen und über ihre Beziehungen zu sprechen. In dieser Hinsicht sind die jüngsten Besuche von Deutschlands Bundeskanzler Scholz und von EU-Ratspräsident Michel in China positiv zu werten. Aber es bedarf noch weiterer dieser Treffen. Wichtig ist auch, dass sich beide Seiten weiterhin um eine Zusammenarbeit in Bereichen bemühen, die ihnen gegenseitigen Nutzen bringt. Eine Verstärkung der internationalen Bemühungen zur Bekämpfung des Klimawandels ist hier wohl die offensichtlichste Möglichkeit. (bre)
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„Es wird zu einer Entwicklung der Reglobalisierung im Sinne einer Reform kommen.“
Peter Kauschke, Director Transport, Logistics & Mobility bei PwC
„Wir bekommen die Konsequenzen radikal zu spüren“
Aus Sicht der Klimastreik-Bewegung Fridays for Future befindet sich unsere Gesellschaft an einem Punkt, an dem wir die Konsequenzen unseres bisherigen politischen und wirtschaftlichen Handelns radikal zu spüren bekommen, beispielsweise durch die Vielzahl der aktuellen Krisen. „Um ökologische und soziale Krisen zu vermeiden und eine wirklich sozial gerechte Gesellschaft zu erreichen, sollte sich die Struktur unserer Gesellschaft und der Wert von Mensch und Natur ändern“, sagt Darya Sotoodeh, Pressesprecherin von Fridays for Future. Dabei gehe es nicht um die Globalisierung allgemein, sondern darum, den natürlichen Ressourcen des Planeten und dem Menschenleben mehr Wert beizumessen. „Produktion und Handel müssen sich daran anpassen. Praktisch bedeutet das zum Beispiel, dass jeder Mensch eine gewisse Akzeptanz erfährt, ohne sich beweisen und als wirtschaftlich produktiv erweisen zu müssen. Erst damit können wir die massive Ausbeutung von Mensch und Natur, die momentan auf der Welt stattfindet, beenden“, so Sotoodeh.
Vor diesem Hintergrund bewertet sie eine Vernetzung auf globaler Ebene – egal ob für den Handel oder eine andere Form des Austauschs – generell als etwas Gutes an. Dieser solle aber im besten Fall aus gegenseitigem Interesse und auf Augenhöhe geschehen, und nicht aus der Motivation, eine größtmögliche Gewinnmaximierung zu erreichen, oder aus der Angst, im globalen Konkurrenzkampf zu verlieren. „Der globale Handel, wie er momentan stattfindet, wird genau von diesen Aspekten angetrieben. Europa hat in der Vergangenheit einen entscheidenden Grundstein für dieses Wirtschaftssystem gelegt, dem China jetzt folgt. Diesem Einfluss kann sich Deutschland natürlich nicht vollständig entziehen. Es gilt aber Menschenrechtsverletzungen in keinster Weise zu unterstützen und sich möglichst nicht in eine starke wirtschaftliche Abhängigkeit von anderen Staaten zu begeben“, so Sotoodeh. Ihr Vorschlag. „Wir brauchen eine sozial-ökologische Transformation. Konkrete Anfänge können zum Beispiel eine Kreislaufwirtschaft oder ein konsequentes Lieferkettengesetz sein.“ (bre)
„Europa hat einen entscheidenden Grundstein für dieses Wirtschaftssystem gelegt, dem China jetzt folgt.“
Darya Sotoodeh, Pressesprecherin von Fridays for Future